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Günter Grass sammelte im Nahetal Pilze Nobelpreisträger kam 1993 für Lesung und Ausstellung auch nach Idar-Oberstein
M Kreis Birkenfeld. Bundespräsident Joachim Gauck und der kanadische Schriftsteller John Irving zählen neben vielen Freunden und Bekannten am Samstag zu den Gästen der offiziellen Trauerfeier für den kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Ungebrochen ist die Erinnerung aber auch bei Literaturfreunden an der Nahe und im Hunsrück, die auf unvergessliche Begegnungen mit dem Schöpfer der „Blechtrommel“ zurückblicken können. Unter dem Titel „Die 80er-Jahre: Orwells Jahrzehnt?“ tourten Günter Grass und Johano Strasser, der spätere Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums, 1980 im Bundestagswahlkampf für Helmut Schmidt und die SPD kreuz und quer durch die Republik. Grund genug für Axel Redmer, der seit gemeinsamen Tagen im Juso-Bundesausschuss mit Strasser befreundet war, diesen zu fragen, ob die beiden Autoren nicht in Wilhelm Dröschers ehemaligen Bundestagswahlkreis Kreuznach-Birkenfeld kommen könnten. Nach rascher Zusage folgte die Ernüchterung: Anders als erwartet, wurden Grass und Strasser nur im benachbarten Kreis Bad Kreuznach eingesetzt. Wirt stellte Küche zur Verfügung Es nahmen dennoch etliche Besucher aus dem Kreis Birkenfeld teil. Sogar um Mitternacht saß noch ein Häuflein Unentwegter mit den beiden Gästen im Weinlokal auf der Nahebrücke beisammen, ehe Grass plötzlich verschwand: Auf der Fahrt von Kirn nach Bad Kreuznach hatte der leidenschaftliche Koch und ausgewiesene Pilzkenner entlang der B 41 an mehreren Weinbergen angehalten und prompt einige Speisepilze gefunden. Obwohl die Küche bereits geschlossen hatte, ließ der Wirt den prominenten Gast die Ausbeute selbst zubereiten. Ein halbes Jahr später trafen sich politisch-kulturell Interessierte im Weierbacher Gasthaus „Beim Ännchen“ und gründeten in Anlehnung an das von Grass populär gemachte Gleichnis, wonach der Fortschritt eine Schnecke ist, den Verein „Die Schnecke – Forum Kultur und Gesellschaft“. Während sich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sahen, Mitte der 1980er-Jahre zu einer Lesung nach Idar-Oberstein zu kommen, sagte Grass dem jungen Kulturverein spontan eine Ausstellung seiner Grafiken samt Lesung in Idar-Oberstein zu. Ein Termin war schnell ins Auge gefasst. Doch dann zog sich der nach der scharfen Kritik an seinem 1986 erschienenen Roman „Die Rättin“ tief verletzte Schriftsteller Hals über Kopf nach Portugal zurück. Eine Veranstaltung mit ihm schien nicht mehr realisierbar zu sein. 1992 erst traf der Vorsitzende der „Schnecke“ Grass und Strasser zufällig in München. Dabei räumte der umworbene Autor ohne Umschweife ein, dem Kulturverein in Idar-Oberstein noch einen Termin zu schulden. So kam es vom 28. Mai bis zum 11. Juni 1993 unter dem Titel „In Kupfer und auf Stein“ zur Präsentation seiner Radierungen und Lithografien im Obersteiner Hauptgebäude der Kreissparkasse. Eine kleine „Schnecken“-Gruppe begleitete Grass und Sparkassenchef Manfred Krämer durch die Ausstellung. Krämer, der später den von Roland Koch initiierten Aufruf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unterschrieb und recht grob seine Vorbehalte gegen eine liberale Zuwanderungspolitik zum Besten gab, musste rasch erkennen, dass Grass, wenn es sein musste, auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen wusste. In der ausverkauften Göttenbach-Aula las er anschließend aus seiner Erzählung „Unkenrufe“ und dem Gedichtband „Novemberland“. So umgänglich sich der Künstler beim abschließenden Umtrunk im Badischen Hof auch zeigte, wollte er nicht preisgeben, wer ihn zu der Allegorie mit der Fortschrittsschnecke angeregt hatte. Ihm selbst war es zwar gelungen, das Bild populär zu machen, aber lange vor ihm war es bereits von Honoré Daumier und Erich Kästner genutzt worden. 2006 schilderte Grass in seinem Memoirenband „Beim Häuten der Zwiebel“, wie er sich, aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen, vorübergehend bei seinem „Kumpel Kongo“ in der Nähe von Merzig aufgehalten hatte. Von dort aus führten ihn Hamsterfahrten „in überfüllten Zügen aufs Land, bis in den Hunsrück hinein, wo, wie wir meinten, die Welt aufhörte, so schwermütig hügelte sich die Gegend“. Doch auch naheabwärts waren die Freunde unterwegs. Hamsterfahrt durch Idar-Oberstein Für Axel Redmer, der gerade an dem Buch „Idar-Oberstein. Illustrierte Stadtgeschichte 1945 bis 2000“ arbeitete, war dies im vergangenen Jahr Anlass, Grass zu fragen, ob er seinerzeit auch nach Idar-Oberstein gekommen sei. Die Antwort aus Lübeck ließ nicht lange auf sich warten. Er könne sich zwar nur noch dunkel an jene Zeit erinnern, in der in der äußersten Ecke des Saargebiets der Hunger besonders spürbar gewesen sei, „weil die Franzosen ein strenges Regiment führten“, aber er meine, seine damalige „Hamsterfahrt führte wahrscheinlich über Idar-Oberstein“. Dann ließ Grass erkennen, welchen persönlichen Stellenwert er seinen späteren politisch-kulturellen Ausflügen an die Nahe beimaß und schloss den Brief an Redmer mit dem Satz: „Deutlicher ist meine Erinnerung an Wilhelm Dröscher; ein Sozialdemokrat von Format.“ Nahe Zeitung vom Freitag, 8. Mai 2015, Seite 17
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