Die Schnecke in der Presse
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Nahe Zeitung, 30.09.2017

Verboten und verbrannt

Höhepunkt der nun beendeten documenta 14 war zweifelsohne der „Parthenon der Bücher“. Dort, wo 1933 die Nationalsozialisten 2000 Bücher auf einem Scheiterhaufen verbrannt hatten und acht Jahre später alliierte Flieger die 350 000-bändige Bibliothek im Fridericianum auslöschten, stand in diesem Sommer ein spektakulärer Büchertempel. Angelehnt an die Athener Akropolis, hatte die argentinische Konzeptkünstlerin Marta Minujin ein 20 Meter hohes und 70 Meter langes Skelett aus Stahlmodulen errichtet. Beabsichtigt war, diesen „Rohbau“ mit Büchern, die irgendwann irgendwo auf der Welt offiziell verboten waren, zu verkleiden. Seit der letztjährigen Frankfurter Buchmesse wurden Literaturfreunde gebeten, entsprechende Texte zur Verfügung zu stellen. An der Kasseler Universität überprüften Studenten, ob die Bände wirklich den geforderten Kriterien entsprachen. Danach wurden die freigegebenen Exemplare von Arbeitern des VW-Werks in Baunatal wetterfest eingeschweißt, bevor sie mit Kabelbindern am Tempelskelett auf dem Kasseler Friedrichsplatz befestigt werden konnten. Besucher wurden gebeten, während der documenta weitere Bücher mitzubringen, und so verwandelten schließlich 65 000 Romane, Novellen, Gedicht- und Essaybände, Tagebücher, Briefsammlungen und andere Sachbücher den Parthenon in einen bunten Blickfang. Seit seiner Gründung hat der Kulturverein Die Schnecke immer wieder „verbotene“ Autoren zu Gast gehabt. Neben Exilanten der NS-Zeit wie Walter Fabian und Georg K. Glaser waren dies die mittel- und osteuropäischen Schriftsteller Pawel Kohout und Lew Kopelew, die DDR-Dichter Wolf Biermann und Günter Kunert, aber auch Günter Grass und Martin Walser. Die griechische Ausgabe der Grass-Novelle „Katz und Maus“ war 1967 von der Athener Militärjunta verboten worden. Martin Walser stand gleich mit neun seiner Werke in Italien auf dem Index, unter anderen mit „Brandung“, dem Roman, aus dem er Mitte der 1980er-Jahre in der Göttenbach-Aula las. Angesichts dieses Bezugs zu verbotenen Büchern lag es nahe, dass sich Die Schnecke am Kasseler „Tempel der verbotenen Bücher“ beteiligte. Im niederländischen Purmerend hatte im November 1985 Konrad Merz den Gästen von der Nahe einige Passagen aus seinem Erstlingsroman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ vorgelesen. Unmittelbar nach dem Erscheinen hatten die Nazis das Buch verboten und auf Scheiterhaufen verbrannt. Jetzt wurde es von Sonja und Axel Redmer nicht nur dem Kasseler Bücherparthenon hinzugefügt, sondern findet sich zudem in der mehr als 120 000 Titel umfassenden und weltweit geführten „List of Banned Books“, in die in den kommenden Monaten noch mehrere verbotene und bisher noch nicht registrierte Bücher von Gastautoren der Schnecke aufgenommen werden sollen. Zur Symbolik des Büchertempels gehörte es, die zuletzt eingeschweißten Werke „zu befreien“, das heißt, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Deshalb wurden an den letzten Tagen der documenta die am Stahlskelett befestigten Bücher mithilfe zweier Kräne wieder entfernt und von interessierten Besuchern als Lektüre mitgenommen.

Axel Redmer und seine Frau Sonja durften dem Kasseler Parthenon ein Werk von Konrad Merz hinzufügen