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Auch Laukhard war ein Heimatloser Solidarität Aydan Özoguz hielt diesjährige Predigt
Von unserem Redaktionsleiter Stefan Conradt
Veitsrodt. Die Laukhard-Predigt im historischen Dorfkirchlein in Veitsrodt war von Anfang an etwas Besonderes: Politische Reden von der Kirchenkanzel, das ist nichts Alltägliches. Allerdings gab es das genau an dieser Stelle schon vor mehr als 200 Jahren. Von 1804 bis 1811 war Friedrich-Carl Laukhard Pfarrer in der kleinen Gemeinde und ging bei seinen Predigten nicht selten hart ins Gericht mit der Obrigkeit. An diese Tradition sollen die Laukhard-Predigten anknüpfen, die die Laukhard-Gesellschaft, die Kreisvolkshochschule, der Kulturverein Die Schnecke und der Kirchenkreis Obere Nahe seit 2010 einmal jährlich veranstalten. Diesmal war die Predigt noch exotischer: Mit Aydan Özoguz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, stand erstmals eine Muslima in der Kanzel. „Das ist keine Selbstverständlichkeit“, meinte Mitinitiator Axel Redmer, der sich ebenso wie Pfarrer Uwe Kreutz ausdrücklich beim Presbyterium für Unterstützung und Gastfreundschaft bedankte. Auch die Staatsministerin im Kanzleramt („Das ist meine erste Predigt“) fand die Situation etwas befremdlich, meinte aber, sie habe schon Schlimmeres erlebt – als sie vor ein paar Jahren als Hamburgerin mit türkischen Wurzeln zu einer Aschermittwochskundgebung ihrer Partei nach Franken eingeladen war. Aydan Özoguz (gesprochen: „Ösus“) ging in ihrer Rede in der mit rund 100 Menschen fast voll besetzten Kirche zunächst ausführlich auf die Person Laukhard ein, der auch ein Getriebener, ein Heimatloser gewesen sei, ehe sie geschickt zum Thema überleitete. Sie sieht beim Flüchtlingsproblem Europa in einer Bewährungsprobe. Die 800 000, die wahrscheinlich in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragen werden, seien erst die Spitze des Eisbergs: „Richtig viele Flüchtlinge sind derzeit noch in der Türkei, im Libanon und Jordanien.“ Und dort tue man alles,um diesen Menschen die Weiterreise zu ermöglichen. Die 48-Jährige erinnerte daran, dass Solidarität zu den Grundwerten unserer Gesellschaft gehöre: „Das ist das Gegenteil von Abschottung und Abschreckung, die gerade viele wieder salonfähig machen wollen.“ Dagegen sei es beeindruckend, wie sich in Deutschland Zehntausende ehrenamtlich für die Flüchtlinge einsetzten. Diese positive Einstellung („die helle, warme Seite Deutschlands“) gehe auch auf den Glauben zurück, meint Özoguz. Egal, ob Bibel, Koran oder Thora – überall gebe es Geschichten von Flucht, Elend und Gewalt: „Daraus ist ein Ethos erwachsen, an den Politik und Gesellschaft heute anknüpfen.“ Aber nicht nur die Weltreligionen, auch der Humanismus und die europäische Aufklärung bauten auf diesen Werten auf und zementierten so Grundrechte für Asylbegehrende. Andererseits müsse man aber auch die Ängste der Menschen ernst nehmen. Dass 60 Prozent der Deutschen den Islam als Bedrohung sehen, liegt nach Einschätzung Özoguz' daran, dass sie täglich in den Nachrichten mit terroristischen Übergriffen konfrontiert werden: „Da fällt es schwer, den unauffälligen, friedliebenden Nachbarn als solchen wahrzunehmen.“ „Solidarität ist ein europäisches Versprechen“, bekundete die Hamburgerin, die viel Applaus für ihre Predigt erhielt und im anschließenden Frage- und Diskussionsteil gar als künftige SPD-Kanzlerkandidatin vorgeschlagen wurde. Vor der eigentlichen Predigt hatten Schüler der IGS Herrstein-Rhaunen, der Magister-Laukhard-Schule, mit einem wortlosen „Anspiel“ eindrucksvoll aufs Thema Flüchtlinge vorbereitet. Bei der traditionellen Kollekte, die auf Wunsch der Staatsministerin dem Café International, der Flüchtlingshilfe in Idar und Oberstein, zugutekommen wird, kamen mehr als 500 Euro zusammen.
Nahe Zeitung vom Samstag, 5. September 2015, Seite 13
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