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Axel Redmer Kurt Vittinghoff strebte auf allen Gebieten nach Gerechtigkeit
Sein konsequentes Eintreten für Arbeitnehmerrechte, sein Beharren auf bildungspolitischer Chancengerechtigkeit, seine überzeugende Zusammenführung von Umweltschutz und Arbeitsplätzen, aber auch sein mutiges Engagement gegen jede Form von Faschismus, ermunterten weit über den Gewerkschaftsbereich hinaus zahlreiche Menschen unserer Heimat. Nach einem kämpferischen und gradlinigen Leben, das bis zuletzt von bürgerschaftlichen Impulsen geprägt war, starb der langjährige Erste Bevollmächtigte der IG Metall und ehemalige Europaabgeordnete Kurt Vittinghoff am 15. August 2011 in Bad Kreuznach.
1950 kam der 22-jährige in Mülheim an der Ruhr geborene und im Westerwald aufgewachsene arbeitslose Möbelschreiner an die Nahe. Von der Handelsschule weg hatte er als Flakhelfer noch am längst verlorenen Weltkrieg teilnehmen müssen. Das Kriegsende erlebte er in Frankfurt am Main, wo der alliierte Bombenhagel die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzte.
In Bad Kreuznach begegnete Vittinghoff seiner späteren Ehefrau Friederike und fand bei den Lederwerken Rohde seine erste Anstellung. Über die Weinkellerei Feick führte ihn sein Berufsweg zum Maschinen- und Anlagenbauer HOMBAK. 1959 in den Betriebsrat gewählt, fiel der junge Arbeitnehmervertreter schnell durch seine charismatische Ausstrahlung, eine beeindruckende rhetorische Begabung und ausgeprägtes Bildungsinteresse auf. Erfahrene Gewerkschaftskollegen erkannten die Talente des jungen Betriebsrats und boten ihm eine hauptamtliche Stelle bei der IG Metall an. Nachdem Vittinghoff seine Feuertaufe bestanden hatte und innerhalb eines Jahres die überfällige Zusammenlegung der beiden Geschäftsstellen Bad Kreuznach und Idar-Oberstein erfolgreich durchgesetzt hatte, wurde er Erster Bevollmächtigter der IG Metall-Verwaltungsstelle Bad Kreuznach.
Vittinghoff machte der geringe Organisationsgrad vor allem in den Betrieben des Kreises Birkenfeld zu schaffen. Wenn er den Arbeitnehmern zu mehr Rechten verhelfen wollte, brauchte er mehr Mitstreiter. Nur eine mitgliederstarke Gewerkschaft konnte die in vielen Betrieben anzutreffende Tariflosigkeit eindämmen, die Niedriglöhne und ausufernde Heimatarbeit begünstigte. Ohne Erfolge keine neuen Mitglieder und ohne neue Mitglieder keine Erfolge. Diesen Teufelskreis galt es zu durchbrechen. In der Tarifrunde des Jahres 1976 gelang Vittinghoff ein Coup, der ihm viel Antipathie im Unternehmerlager, aber auch bei der Gewerkschaftsspitze in Frankfurt am Main eintrug, gleichzeitig jedoch die dauerhafte Wertschätzung der betrieblichen Basis sicherte.
Während der laufenden Friedenspflicht organisierte Vittinghoff parallel zu den Tarifverhandlungen eine Demonstration. Sechs Kollegen der Firma Fissler, die an der als Warnstreik anzusehenden Aktion beteiligt waren, erhielten daraufhin von ihrem Arbeitgeber die Kündigung. Gegen den Willen der IG Metall-Bezirksleitung in Mainz und auch gegen den ausdrücklichen Rat der Frankfurter Gewerkschaftszentrale gewährte Vittinghoff den entlassenen Kollegen bei ihrem Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Rechtsschutz. Die Gewerkschaftsspitze befürchtete ein Grundsatzurteil zugunsten der Arbeitgeber und damit eine Verringerung ihrer künftigen Arbeitskampfmöglichkeiten. Doch Vittinghoff behielt recht: In dritter Instanz erklärte das Bundesarbeitsgericht Ende 1976 das Verhalten der sechs Fissler-Mitarbeiter für zulässig. Fortan verfügten die Gewerkschaften bundesweit nicht über weniger Arbeitskampfmittel, sondern über ein zusätzliches und sehr flexibel einsetzbares Instrument, das – zum Leidwesen der Arbeitgeber – für die künftige Gewerkschaftsstrategie der „Neuen Beweglichkeit“ genutzt wurde. Vittinghof hatte mit seinem Mut und seiner Beharrlichkeit Arbeitsrechtsgeschichte geschrieben.
Gleichwohl empfand sich Vittinghoff nie als ausschließlicher Sachwalter von Arbeitnehmerbelangen. Seinem 1965 vollzogenen Eintritt in die SPD folgte ein jahrelanges kommunalpolitisches Engagement. Eher ungewöhnlich für einen Gewerkschafter schloss er sich 1978 der Europa-Union an und übernahm auch dort Verantwortung. Fehlende Unterstützung der Frankfurter Gewerkschaftsleitung hielt ihn im Sommer 1975 von einer Kandidatur für den Bundestag ab. Vittinghoff war grundsätzlich bereit, innerparteilich gegen Conrad Ahlers, den damaligen Wahlkreisabgeordneten, anzutreten, machte aber zur Bedingung, dass er weiter die IG Metall-Verwaltungsstelle Bad Kreuznach leiten dürfe, um hinreichend „geerdet“ zu bleiben. Was man andernorts gewerkschaftlich praktizierte, blieb ihm verwehrt.
1984 – inzwischen war er Landesvorsitzender der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) – wurde Vittinghoff Europaabgeordneter. Für jemanden, der frühzeitig nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken der Globalisierung erkannt hatte, ein konsequenter Schritt. Unermüdlich – aber oft genug auch mit ernüchternden Ergebnissen – setzte sich der Gewerkschafter für eine tragfähige und zukunftsweisende Zusammenführung von Umweltschutz und Arbeitsmarktpolitik ein. Als er sich 1991 im Parlament bei der Behandlung der EU-Abgasrichtlinie für die ergänzende Festlegung von moderaten Spritobergrenzen im Fahrzeugbau einsetzte, musste er schnell erkennen, wie europaweit die Automobilkonzerne ihre Macht nutzten und erfolgreich EU-Kommission einschließlich so profilierter Umweltpolitiker wie Prof. Klaus Töpfer einschüchterten. In zweiter Lesung wurde Vittinghoffs Parlamentsinitiative gekippt. Dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL gab der Europaparlamentarier anschließend seine Enttäuschung über die „mafiaähnliche Lobbytätigkeit“ zu Protokoll.
Auch nach seiner 1991 beendeten hauptamtlichen Gewerkschaftstätigkeit und dem Ausscheiden aus dem Europaparlament drei Jahre später, blieb Vittinghoff gesellschaftspolitisch aktiv. Unvermindert bekämpfte er reaktionäre Denkfaulheit. Der Eindämmung von Rechtsextremismus und Antisemitismus galt sein Augenmerk. Vor Ort unterstützte er die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Verbunden blieb er der Kulturinitiative „Die Schnecke“. Bei der Bad Kreuznacher Baugenossenschaft GBG leitete er bis zuletzt den Aufsichtsrat. Der menschenwürdigen Versorgung von Kriegs- und Armutsflüchtlingen galt sein besonderes Augenmerk und für die Kinder von Tschernobyl rief der leidenschaftliche Atomkraftgegner ein Hilfswerk ins Leben. Folgerichtig stellte Ministerpräsident Kurt Beck mit Blick auf das Mut machende Leben seines langjährigen Wegbegleiters fest: „Kurt Vittinghoff war für viele ein Vorbild.“
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