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Nahe Zeitung vom Freitag, 10. September 2010 Schreckensvision: Gesundheit wird Pflicht Juli Zeh liest aus ihrem Science-Fiction-Roman „Corpus Delicti“ – Rund zwei Dutzend Zuhörer
Birkenfeld. „Sie ist in heutiger Zeit fast schon eine Exotin“, eröffnete Axel Redmer, Vorsitzender des Kulturvereins „Die Schnecke“, die Montagabend-Lesung von Juli Zeh im Maler-Zang-Haus in Birkenfeld. „Denn sie schreibt nicht nur“, und damit wandte er sich anerkennend an die neben ihm sitzende Autorin, „sondern sie äußert sich auch politisch.“
Rund zwei Dutzend Zuhörer waren zu der Lesung gekommen, in der Juli Zeh aus ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Corpus Delicti“ las und sich im Gespräch mit Axel Redmer und dem Publikum Fragen zu ihrem „Science-Fiction-Krimi“ stellte, der mit der Schreckensvision einer „Gesundheitsdiktatur“, so Redmer, bereits näher „an die Realität reicht als vermutet“. Schnell ging die Lesung, für die die 36-jährige, in Passau geborene und zurzeit bei Berlin lebende Autorin vor allem erzählerische Passagen des eher „dialoglastigen“ Romans ausgewählt hatte, in einen Meinungsaustausch über allerlei allgemein-gesellschaftliche Problemkreise über.
Das aktuell propagierte Menschenbild, so führte Juli Zeh im Rahmen dieses Gesprächs aus, wende sich immer mehr vom Menschen als geistigens Wesen ab und der reinen Körperlichkeit und einem damit verbundenen funktionalen Gesundheits- und Schönheitswahn zu. Das sei auch das Grundthema ihres neben Kurzgeschichten und Theaterstücken inzwischen fünften Romans „Corpus Delicti“, der die totale Überwachung von Menschen „zu ihrem gesundheitlichen Besten“ im Jahr 2057 darstellt. „Damit gebe ich allerdings keine Prognose für unser Land“, stellte Juli Zeh klar, „ich habe mich nur des beliebten literarischen Mittels bedient, vorhandene gesellschaftliche Tendenzen geradlinig in eine Zukunft zu verlängern, um aktuelle Trends sichtbarer zu machen.“
Ursprünglich als Theaterstück konzipiert, ist „Corpus Delicti“ eine Art Krimi, der in Form eines Gerichtsprozesses auch die Biografie der Autorin widerspiegelt: Juli Zeh ist examinierte Juristin, der allerdings das literarische Schaffen „zur Zeit noch wichtiger ist als juristische oder auch praktische, politische Betätigung“.
„Recherche ist der größte Feind der Fantasie“, fasste Redmer die Aussage der mehrfach preisgekrönten Schriftstellerin zusammen, als Zeh in ihrer schlagfertigen, offenen Art ihre Vorgehensweise beim Schreiben erläuterte: Nicht persönliche Lebenserfahrung oder akribische Recherche stehen hinter ihrem Schreiben, sondern „wie bei Karl May“ die Freude am „Formulieren, in dem ich Welten erschaffen kann, die wirken, als seien sie real.“
Und wenn es dann eine Schreibkrise gibt? „Dann lege ich den Entwurf erst mal weg. Das ist dann kein Scheitern, sondern ein zukunftsoffenes Projekt“, lautete Juli Zehs unbekümmerte Antwort. (ed)
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