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Nahe-Zeitung, 12.10.1991 "Diese Vorstellung brauche ich" Immer den idealen Leser vor Augen Sten Nadolnys Lesung wir ein Erlebnis
Er möchte, so sagt er, mit seinen Büchern Freunde gewinnen. Ich ;Weiß, das klingt ein bißchen betulich. Aber es ist tatsächlich so." Gemessen an den Verkaufszahlen hat Sten Nadolny schon viele Freunde. Der Autor des vielgerühmten Bestsellers Die Entdeckung der Langsamkeit las am Donnerstag auf Einladung der Schnecke" im Gymnasium Heinzenwies aus seinem 1990 erschienenen Roman "Selim oder Die Gabe der Rede".
Er sieht aus wie ein höherer Beamter: überaus korrekt gekleidet Anzug, Krawatte, Sten Nadolny strahlt etwas Beruhigendes aus. Er beginnt zu lesen- Die Stimme ist angenehm und wohltuend- Langsam breitet sich eine leichte, unbeschwerte fast heitere Stimmung aus. "Ich halte sehr viel davon, daß man die Dinge so unernst wie möglich nimmt", sagt er später in der Diskussion.
Das gilt auch, wenn es um ernste Themen geht. Sein Roman erzählt unter anderem auch die Geschichte des türkischen Gastarbeiters Selim. Solche Erlebnisse sind in Zeiten eines stetig zunehmenden Ausländerhasses besonders aktuell. Aber Sten Nadolny hat der Versuchung, dieses Einzelschicksal eines Türken in Deutschland mit belehrendem und moralisierendem Unterton zu schildern, mit Erfolg widerstanden
Davor müsse man sich sehr hüten, wenn man eine Geschichte erzählen wolle, sagt er. ..Der Erzähler muß seine guten Absichten vergessen. Sonst leidet die Geschichte." Und der Lee r spüre sehr genau. wenn der Autor ihn manipulieren wolle Und natürlich sind die Türken wie andere Ausländer auch in erster Linie nicht Opfer. sondern Menschen, sagt Nadolny. Opfer seien nämlich immer nur edel und gut, das Menschliche in all seiner Vielfalt die schlechten Seiten eingeschlossen, fehle. Dennoch habe er lange mit sich gekämpft bevor er sich schließlich doch entschloß, einen dir Türken in seinem Roman als Rauschgifthändler enden zu lassen.
Mit "Selim oder Die Gabe der Rede", das er 1983 begann und erst 1990 beendete, hatte der 49jährige besondere Schwierigkeiten. Am Anfang stand ein Mensch. der ihn besonders interessierte. Zufällig ein Türke. Durch ihn lernte er andere Türken kennen, die ihm in irgendwelchen Kneipen ihre Geschichten erzählten. Ganze Blöcke hat er vollgeschrieben. Den Anstoß, darüber ein Buch zu schreiben, gab 1982 die Selbstverbrennung einer Türkin in Hamburg, als radikaler Protest gegen die lieblose und gleichgültige Behandlung durch die Deutschen, aber auch durch die eigene Regierung.
Danach begann er mit dem Buch. -Es ermutigt mich immer, wenn der erste Satz schon feststeht, sagt er mit leiser. sanfter Selbstironie. Wo ihn die Geschichte hintreibt, weiß er vorher nie. In diesem Fall "mußte ich erst kapieren, daß ich noch nichts kapiert hatte. Das hat lange gedauert." Es reiche eben nicht ein paar Türken zu kennen, um ein Buch über Türken zu schreiben.
Autobiographische Züge? "In diesem Roman spielt neben Selim ein gewisser Alexander die Hauptrolle, eine Figur in der sehr viel von mir drinsteckt. "Auch Sten Nadolny war bei der Bundeswehr, die er ohne Bösartigkeit bloßstellt. Und er war wie Alexander zur Zeit der 68er Studentenrevolte in Berlin. Anders als dieser hatte Sten Nadolny aber nie das Lebensziel, ein begnadeter Redner zu werden.
"Ein bißchen muß auch im Roman das Leben imitiert werden", meint er. Im Leben wie auch in diesem Roman brechen Beziehungen plötzlich ab, verschwinden Menschen, die für Selirn oder Alexander einen Augenblick oder auch länger sehr wichtig sind. für immer aus deren Blickfeld. Das Lächeln, das so etwas wie ein Markenzeichen von Nadolnys Büchern ist kehrt auch nach wehmütigen oder gar tragischen Lebenssituationen zurück.
Vielleicht liegt es daran, daß Sten Nadolny beim Schreiben immer einen Idealleser vor seinem geistigen Auge hat dem er eine Geschichte so gut wie möglich erzählen will "Diese Vorstellung brauche ich." Und zudem ist es ein gutes Rezept, Freunde zu gewinnen.
Kurt Knaudt
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