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Zehn Jahre "Die Schnecke"
"Merkt Ihr nischt-?" Tucholsky und seine Zeitgenossen
Liederabend mit Sylvia Anders und Justus Noll
17.03.1991, 20.00 Uhr
Idar-Oberstein, Göttenbach-Aula

Nahe-Zeitung, 01.06.1993
...der Zuhörer merkt´s
Sylvia Anders ließ den Chanson der 20er Jahre wieder aufleben

Sylvia Anders braucht weder Dekor noch Kostüm. Sylvia Anders macht es anders: mit gewandter Mimik und lebendiger Gestik fesselt sie über zwei Stunden 130 Zuhörer in der Göttenbach-Aula. Unter dem Titel: "Merkt Ihr nischt...? Tucholsky und seine Zeitgenossen" präsentiert die Sängerin auf Einladung des Kulturvereins "Die Schnecke" zwei Dutzend zeitkritische Lieder aus den Jahren 1918 bis 1935.

Das Publikum merkt was: Sylvia Anders beherrscht die Ausdruckspalette der damaligen Zeit. Frech wie "Piefke in Paris", wehmütig-nostalgisch als Dame der alten Schule", anklagend im "Marburger Studentenlied" beweist die ausgebildete Schauspielerin ihre enorme Wandlungsfähigkeit Ihre einzige, aber wichtigste Requisite ist dabei ihr Gesicht. lebendig leuchtende Augen, aus denen sie frivol mit dem Publikum flirtet, oder nur einen Augenwinkel, aus dem sie verschmitzt in die Reihen zwinkert. Dazu ein perfekt auf jede gesungene Silbe abgestimmtes Lippenspiel. Ihre vielseitige Stimme rundet alles ab: Sylvia Anders zeigt, daß ein klassischer Sopran nicht nur für Orphelia und Königin der Nacht geeignet ist - Rollen, in denen sie bereits auf deutschen Bühnen glänzte.

Das Publikum merkt es: Sylvia Anders Stimme ist anders. Ironisch und polemisch wie die Texte selbst,' rauchig-gehaucht wie nach zu vielen Zigaretten, quietschend wie eine alte Tür. In Hollaenders "Groschenlied" wird ihr Gesang sogar zum tränenlosen Weinen. In Brechts Legende vom toten Soldaten" beweist die mehrmalige Brecht-Interpretin, daß sie auch den für Chansons der 20er und 30er Jahre wichtigen Sprechgesang bestens beherrscht Gespenstisch kommt sie ihrem Publikum als Der Geist persönlich", ein Lied von Hollaender, der schon vor rund 60 Jahren bemerkte: "Viel schauriger sind Köpfe ohne Geist".

Das Publikum merkt es: die von Sylvia Anders vorgetragenen Lieder haben an Aktualität nichts verloren - haben die Republik und das 3. Reich überlebt. Sylvia Anders zeigt es an einer Rechenaufgabe, die einst Tucholsky stelle: "Eine sozialdemokratische Partei hat in acht Jahren Null Erfolge - in wie vielen Jahren merkt sie, daß ihre Taktik falsch ist?" Als Reaktion erntet sie spärliche Lacher und Kopfnicken. Ungeteilte Zustimmung findet dagegen Tucholskys Variante des Deutschland-Liedes, in dem er ein Sprichwort bissig zu "Deutsch bleibt deutsch - da helfen keine Pillen« umwandelte.

Justus Noll, promovierter Musiker und freier Journalist, begleitet Sylvia Anders am Klavier, an der Quetschkommode und der Klarinette und macht notfalls auch Röpser als Geräuschkulisse. Er hat drei Schallplatten für die Sängerin geschrieben, von denen eine prämiert wurde. Die Edelsteinstadt dürfen beide erst nach drei Zugaben verlassen: einem Berliner Lied von Kurt Weill, Hollaenders "Wie ungerecht", und Peter Alexanders "Die süßesten Früchte". Letzteres unterstreicht Sylvia Anders komische Ader. Ihr Mund wird zu einem Entenschnabel. Sie schnattert wie ein tollpatschiges Gänslein. Ob komisch, kritisch oder keck - Sylvia Anders ist auf dem Weg zu den hochhängenden, aber süßesten Früchten. 

Alexandra Petersen