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Nahe-Zeitung, 16.11.2000 "Europa sucht noch seine Identität" Egon Bahr, Urgestein und Ost-Experte der SPD, sprach in der Göttenbach-Aula - Ein Mann der sorgfältig gewählten Worte
Egon Bahr weiß, wo die wichtigsten Unterschiede zwischen den USA und dem "alten Kontinent" liegen: "Amerika zweifelt nicht an seiner Identität, es hat sie. Europa sucht sie noch." Nur wenige sind kompetent genug für solche Aussagen. Bahr gehört dazu. Am Dienstag sprach der Ostexperte der SPD auf Einladung des Kulturvereins "Schnecke" über "Deutsche Interessen".
IDAR-OBERSTEIN. Egon Bahr ist kein Mann der lauten Worte. Seine Überlegungen sind bedächtig, gründlich, in sich aufbauend. Trotzdem: Zum Schluss seines Monologs in der Göttenbach-Aula scheint ihm die Geduld abhanden zu kommen. "Ohne die Emanzipation Europas von den USA ist alles Gerede über die europäische Identität und Handlungsfähigkeit nur Kindergeschwätz", ereifert sich der Journalist und Sicherheitsexperte. Mit Egon Bahr hatte der Kulturverein "Die Schnecke" einen profilierten Kenner der politischen Szene und geachteten Ostexperten an die Nahe geholt: Von 1966 bis 1969 formulierte er die Kernpunkte der Ostpolitik, die in der Brandt-Ära umgesetzt wurden. Seither gilt er als Ost-Experte seiner Partei. Bahr - eine "graue Eminenz" also, dem die in der Aula Versammelten an den Lippen hingen. 70 Minuten lang analysierte der 78-Jährige die Entwicklung der politischen Zentren - vor allem USA, Russland, Europa -, sprach über den Kalten Krieg, das Scheitern von Reagans "Star-Wars"-Programm und das geplante technologisch-militärische Verteidigungsprogramm NMD. Deutschland, davon ist er überzeugt, sei machtpolitisch in einer neuen Situation.
Genaue Analyse Das zeigt sich auch im NMD: "Niemand kann uns zwingen mitzumachen oder ein Territorium zur Verfügung zu stellen für die Aufstellung der Instrumente." Deutschland und Europa müssen sich von der Globalmacht USA emanzipieren: Das ist der Kernpunkt seiner Rede. Um seine Anschauungen zu unterstreichen, setzt Bahr seine Worte sorgfältig, akzentuiert. So doziert er zum Beispiel über die Volljährigkeit im Allgemeinen, um dann auf die politische Ebene überzuschwenken. "Die Volljährigkeit der Staaten heißt Souveränität", sagt er. Punkt, Pause, Widerspruch lassen diese Worte nicht zu. Ein Blick die Besucherreihen entlang, dann fährt Bahr fort: "Und Deutschland ist weit davon entfernt, souverän zu sein." Bahr benutzt lieber die Gestik und die Mittel der Kunstpausen, um Wirkung zu erzielen. Er analysiert genau, seine Worte kommen fließend. Allerdings: Bahr konzentrierte sich auf die politischen Betrachtungen, persönliche Erlebnisse oder Gesprächs-Erinnerungen - und davon dürfte er reichlich besitzen - erwähnte er nicht. Karl-Heinz Dahmer
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