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Nahe Zeitung vom 07.10.2005 Anne Frank war ihre beste Freundin Für Jacqueline van Maarsen ist sie noch immer das kleine Kind von damals
Mit ruhiger, sanfter Stimme erzählt Jacqueline van Maarsen die Geschichte ihres Lebens, liest abwechselnd aus ihrem Buch und aus Anne Franks Tagebuch. Die Niederländerin war die beste Freundin jener Jüdin, die 1945 von den Nazis im KZ Bergen-Behlsen umgebracht wurden und deren im Amsterdamer Versteck geschriebenes Tagebuch die Generationen nach ihr an den Nazi-Terror gemahnt.
IDAR-OBERSTEIN. Jacqueline van Maarsen war die beste Freundin Anne Franks. Die Geschichte ihres Lebens und ihrer Freundschaft zu Anne schrieb sie nieder in ihrem Buch "Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank". Am Dienstagabend las sie daraus im Heinzenwies-Gymnasium. Sie war als Zeitzeugin vom Kulturverein "Die Schnecke" eingeladen worden.
Nie den Stern getragen
Als Tochter einer französischen Katholikin und eines holländischen Juden lebt Jacqueline in Amsterdam. Dank der listigen Mutter muss sie nie den Judenstern tragen, ihr Name und der ihrer Schwester verschwinden von den Deportationslisten der deutschen Besatzer. Jacqueline van Maarsen selbst überlebt das Dritte Reich unbeschadet, doch ihre jüdischen Verwandten werden Opfer des Genozids. Ihre Freundschaft mit Anne Frank ist nur von kurzer Dauer. Ein Jahr lang besuchen die Mädchen zusammen die Schule, dann taucht die Familie Frank unter. "Anne versteckte sich, und ich verlor meine beste Freundin", erinnert sich van Maarsen. Sie hört nichts mehr von Anne, die isoliert in ihrem Versteck Briefe an ihre Freundin in ihr berühmtes Tagebuch schreibt. "Anne hat nicht lange gelebt, und unsere Freundschaft war nur kurz, dennoch wollte ich sie in allen Facetten beschreiben", erklärt die Autorin ihren Entschluss, ihre Erinnerungen erst spät, 1997, zu veröffentlichen. Denn eigentlich wollte sie sich nicht an dem Kult, der sich um Anne und ihr Tagebuch bildete, beteiligen. Bald jedoch konnte sie nicht mehr schweigen. "Ich war sehr empört, was im Laufe der Zeit aus dem Menschen Anne gemacht wurde", sagt van Maarsen. "Ich kann Anne nicht als Symbol sehen, für mich ist sie immer noch das kleine Kind, meine Freundin." Das deutsche Interesse an ihrer Geschichte überraschte sowohl van Maarsen, die mehr Lesungen in Deutschland als in den Niederlanden hält, als auch ihren Mann Ruud Sanders. "Wir bewundern, wie man hier mit diesem Abschnitt der Geschichte umgeht. Man spricht darüber. und das finden wir fantastisch", sagt Sanders. Van Maarsen fügt hinzu: "Man kann nicht an der Zukunft arbeiten, ohne die Geschichte zu kennen." Obwohl die Lesung in einer Schule stattfand, waren nur sehr wenige junge Zuhörer gekommen. "Es ist schade, dass kaum Jugendliche hier sind, die Zeit sollte man sich nehmen", bedauert etwa Laura Faber (17) aus Baumholder, "Anhand von Einzelschicksalen sieht man die Geschichte aus einem ganz anderen Blickwinkel. Man erkennt, wie schlimm es wirklich war." Einen Erklärungsansatz hat Regina Hartenberger (48) aus Idar-Oberstein: "Jugendliche finden oft nur schwer den Zugang zu diesem Thema. Aus heutiger Sicht ist es weit weg. Jüdisch sein und Judentum ist etwas Abstraktes für die jungen Leute, weil sie in ihrem Umfeld nicht damit konfrontiert werden."
Zeitzeugen werden rarer
Gerade für Jugendliche stellen diese Zeitzeugenberichte einen einzigartigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung. Vielleicht auch einen einmaligen, denn Zeitzeugen aus dem Dritten Reich wird es nicht mehr lange geben. Axel Redmer, Vorsitzender des Kulturvereins, der die Gäste dieses Abends begrüßt hatte, formuliert den Reiz einer solchen Veranstaltung: "Es gibt keine bessere Vermittlung als durch Zeitzeugen. Ihre Erzählungen machen das Geschehene transparenter und zugleich plastischer, als die Lektüre von Büchern es jemals könnte". Die Rechnung geht auf. Was alle Zuhörer am Ende der Lesung als größten Vorteil herausstellen, ist die Authentizität des Gehörten. Sarah Woike
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