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"Als der Krieg zu Ende war"
Lesung mit Ingeborg Drewitz
20.03.1985. 19.30 Uhr
Idar-Oberstein, Heinzenwies-Gymnasium

Nahe-Zeitung, 25.03.1985
"Auflehnen gegen den Zynismus des Vergessens"
Ingeborg Drewitz las zum Thema "Als, der Krieg zu Ende war"

Der Kulturverein "Die Schnecke" hatte eingeladen und die Aula des Gymnasiums Heinzenwies war bis auf den letzten Platz besetzt, als Ingeborg Drewitz, Vizepräsidentin des deutschen Pen-Zentrums und langjähriges Vorstandsmitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller, vorlas und sich der Diskussion stellte. Die Schriftstellerin las aus ihrem bekanntesten, autobiographisch gefärbten Roman Gestern war Heute", der Leben und Entwicklung einer Frau in ihrem gesellschaftlichen Umfeld von 1923 bis in die Gegenwart beschreibt

I. Drewitz, selbst 1923 geboren, hat die Wirren und Katastrophen des Jahres 1045 als 22jährige an einem Brennpunkt von Vernichtung und Schuld, in Berlin erlebt. Diese Eindrücke haben die junge Frau so entscheidend geprägt, daß all ihr späteres Schreiben, Reden und Wirken als Mahnung gegen Krieg, Unrecht und Unmenschlichkeit verstanden werden kann.

Die 22jährige Hauptgestalt des Romans erlebt als Studentin ohne Abschluß, als Arbeiterin ohne Qualifikation, als Kind besitzloser Eltern" Bombennächte, tägliches Näherrücken der Alliierten, Güterzüge und Bahnhöfe voller Flüchtlinge, das Grauen beim Öffnen der Konzentrationslager, Hunger, Durst, Gier, Haß, Angst und zugleich die noch immer durch den Äther jagenden Durchhalteparolen der Nazis.

Und mitten im Luftschutzkeller, sie hat immer eine zerfledderte Ausgabe von Kleist bei sich, träumt sie Ihren Traum von einem neuen Deutschland, das aus den Trümmern des alten entstehen wird : "Wir werden nie mehr Waffen produzieren, noch der Waffenproduktion zustimmen. Wir werden nie mehr Soldaten ausbilden, Befehlen gehorchen, Kriegsspielzeug herstellen. Wir werden, Schulen für alle aufbauen. Wir werden deutsche Schuld abtragen... Wir werden nie vergessen, was wir den Juden angetan haben..." Sätze, die Utopie beschreiben?

Den sich jagenden Ereignissen des Kriegsendes und Neuanfangs entspricht eine Sprache, die in ihrer geballten Verknappung und Verdichtung das Lebensgefühl der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ausgedrückt und zugleich Symbolcharakter und poetische Gestaltungskraft enthält: -.. Gegen den Hunger, gegen die Ruhr, gegen den Typhus an, gegen die Sehnsucht an, die keinen Umriß hat, Sehnsucht nach Sonne auf 'der Haut, nach klarem Quellwasser, Jasmintaumel, draußen in den Gärten irgendwo unerreichbar!"

Die nach der Lesung folgende Diskussion zeigte: I. Drewitz sind die Ereignisse von 1945-1047 noch greifbar nah, und sie verfolgt bis heute ihr Ziel aus den Uhren der Geschichte eine bessere Welt zu schaffen. Auf die Frage nach den vorherrschenden Empfindungen der Menschen .nach Kapitulation und Kriegsende meinte die Schriftstellerin, daß zunächst existentielle Not und Überlebensbedürfnisse die größte Rolle gespielt hätten. Viele seien noch immer "unsensibilisiert" gewesen, was die Judenvernichtung betraf und hätten an den Tod Hitlers nicht glauben wollen.

Für sie selbst wie für die meisten Intellektuellen seien dies aber die wichtigsten Monate und Jahre ihres Lebens gewesen. Die zurückkehrenden Emigranten hätten vor der aufgeschlossenen deutschen Jugend ungeheure Hoffnung, ja Aufbruchstimmung geweckt. Das neue Deutschland sollte entstehen, und nie wieder durften sich Zustände wie vor 1945 wiederholen. Die Fragen von Schuld, Verstrickung und Scham seien heftig diskutiert worden, vor allem in Berlin.

Schon bald aber hätten sich auch andere Tendenzen gezeigt. Der Schock von Hiroshima und Nagasaki habe die meisten erst lange nach 1945 getroffen. Das aufblühende Wirtschaftswunder und die Debatte um die Wiederaufrüstung wie auch die Geschehnisse in der Stalin-Ära und der entstehenden DDR hätten die alten Muster und Raster wieder aufleben lassen. Das neue Betriebsverfassungsgesetz mit seiner Verpflichtung zum Betriebsfrieden habe das Wirtschaftswunder und die restaurativen Tendenzen stabilisiert. Der "Kalte Krieg" mit seinem neuen Freund-Feind-Denken habe die Nazi-Schuld verdrängt, Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei in den 50er Jahren ganz zu Ende gewesen.

Die Literatur allerdings habe die Versuche solcher Bewältigung und Aufarbeitung nie aufgegeben. Auch in der Auseinandersetzung um die Gestaltung des 40. Jahrestages der Kapitulation weist I. Drewitz immer wieder mahnend auf jene schuldhafte Vergangenheit hin. Veranstaltungen, die diese Seite der Geschichte verdeutlichen und auch die Erinnerung an gute deutsche demokratische Traditionen wach halten, stehen unter ihrer Schirmherrschaft. Die Idar-Obersteiner Zuhörer erlebten eine Frau, die aufgrund ihrer Lebenserfahrungen äußerst sensibilisiert gegen "Verstörungen der Demokratie" weiter schreibt, redet, hofft. 
Anne Sinclair