Rückblick 1981-1999
  Aktuelles (2022)     Gästeliste     Rückblick 2000-2021     Die Schnecke in der Presse     Vorverkauf     Mitglied werden     Impressum     Datenschutz  
Veranstaltungen 1981
Veranstaltungen 1982
Veranstaltungen 1983
Veranstaltungen 1984
Veranstaltungen 1985
Veranstaltungen 1986
Veranstaltungen 1987
Veranstaltungen 1988
Veranstaltungen 1989
Veranstaltungen 1990
Veranstaltungen 1991
Veranstaltungen 1992
Veranstaltungen 1993
Vortrag von Dr. Franz Dumont
Grafikausstellung von Günter Grass
Lesung mit Günter Grass
Vortrag von Prof. Hans-Albert Walter
Veranstaltungen 1994
Veranstaltungen 1995
Veranstaltungen 1996
Veranstaltungen 1997
Veranstaltungen 1998
Veranstaltungen 1999
Allgemein:
Startseite

"...Wo ich im Elend bin" oder
"Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling"
Vortrag von Prof. Hans-Albert Walter, Emigrationsforscher
29.10.1993, 20.00 Uhr
Idar-Oberstein, Göttenbach-Gymnasium

Nahe-Zeitung
"... wo ich im Elend bin"
Hans-Albert Walter berichtete über Flüchtlingsschicksale
Idar-Oberstein. Mit dem "Emigrationsforscher" Hans-Albert Walter hatte der Kulturverein Die Schnecke" einen interessanten Gesprächspartner nach Idar-Oberstein gebracht. Es gebe, so sagte er eingangs, wenig Literatur über die seelischen Folgen von Flucht und Vertreibung.

Dabei ging es - die Flucht aus Nazideutschland war für den Redner der bezeichnendste' Fall - um Ereignisse wie die, daß ein früherer preußischer Innenminister in Paris um Gelegenheitsarbeiten nachsucht. Bert Brecht hatte im gleichen Zusammenhang den Paß als den edelsten Teil des Menschen bezeichnet. Ludwig Marcuse, ein jüdischer Flüchtling, konnte sich selbst in den 60er Jahren (also viele Jahre nach dem Ende der Hitlerdiktatur) noch nicht entschließen, ohne Paß auszugehen.

Auch die endlich erreichte Ferne erwies sich als alles andere denn als paradiesisch. Der Begriff "Notunterkunft" sei ein reiner Euphemismus gewesen, meinte Walter. Wilhelm Sternfeld hatte ihm erzählt, der Begriff Wanzenburg" bezeichne eines der Quartiere ganz exakt. Jüdische Emigranten hätten sich oft gegen Deklassierung gewehrt. Bei. einem Treffen im damals britisch besetzten Palästina habe sich herausgestellt, wie viele frühere Vereinsvorsitzende und Honoratioren dabei zusammengekommen waren. Scherzhaft habe man den verbreitetsten Beruf der Exilanten ,,Former" genannt: Former Member of the Reichstag", Former Minister" usw. (also ehemaliges Mitglied des Reichstags, ehemaliger Minister).

Prominente Vertreter der Emigration wie Thomas Mann hätten oft wenig Verständnis für die kleinen Leute aufgebracht. So habe Thomas Mann den unter Zwang Auswandernden unterstellt, in Erwartung gebratener Tauben ins Ausland gegangen zu sein, Der Vers des alten Kirchenliedes - . . wo ich im Elend bin . . ." (nämlich zugleich im Ausland und in der Not) wurde zum Titel eines Essays von Walter, der die psychische Verfassung der zur Emigration Gezwungenen beschreibt. Gerade bei jüdischen Menschen habe sich ein Entwurzelungs-Schock geltend gemacht. Die Anhänglichkeit an Deutschland (oder Österreich) hätten manche mit einer künstlichen Schnell-Amerikanisierung zu überspielen versucht - mit der Tendenz, amerikanischer zu sein, als die Amerikaner selber.
Walter meinte sagen zu können, daß Vertreibung in jedem Falle seelische Deformierungen auslöse. Thomas Manns stolze Parole "Wo ich bin, da ist Deutschland" habe nur für wenige Menschen Gültigkeit gehabt. Anna Seghers habe 1941 die bittere Frage gestellt: Ist das noch unser Volk?» - als nämlich die deutsche Wehrmacht Rußland überfiel. Besonders peinlich, so der Emigrationsforscher, sei die Polemik gegen Rückkehrer aus der Emigration gewesen, die alsbald nach 1945 einsetzte. Besonders der bayerische Politiker Franz Josef Strauß sei als Emigrantenbeschimpfer hervorgetreten. In der Aussprache zu Walters Vortrag wurden auch Autoren der hiesigen Gegend erwähnt, die emigrieren mußten, so der Kirner Julius Zerfaß und der Grumbacher Paul W. Massing, der sich durch ein Standardwerk zur Geschichte des Antisemitismus einen Namen gemacht hat. A. P.