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Nahe-Zeitung, 6. Oktober 1984 Ein Literat tingelt aus Existenznot August Kühn bei der Schnecke
Ein Mann hat einen Beruf, dem er sich mit Leidenschaft widmet. Schließlich bringt er es zu einer Position, die ihm ein Jahressalär von 500 000 Mark sichert; außerdem sind so manche seiner Tips seinen Partnern so viel wert, dass er zusätzliches Geld gleich kofferweise nach Hause tragen kann. Das Beispiel ist nicht erfunden. Nicht erfunden ist auch die folgende Geschichte: Ein Mann absolviert nach dem Besuch der Realschule eine Lehre als Optikschleifer, schreibt für die Hauszeitung des Unternehmens, bei dem er dann als Industrieoptiker angestellt ist, Artikel, widmet sich dem Schreiben mit wachsender Leidenschaft, wird Journalist, dann Angestellter einer Speiseeisfirma, schließlich freier Schriftsteller. Mehr und mehr findet unser Mann zu einer Lebensaufgabe: Er macht sich zum Anwalt, zum Sprachrohr der kleinen Leute, der Unterprivilegierten, arbeitet ihre Geschichte auf, erzählt sie – in dem vom ZDF verfilmten Roman „Zeit zum Aufstehen“ – aus ihrer Sicht und legt nach dreijähriger intensiver Arbeit ein weiteres Werk der Öffentlichkeit vor, den 700 Seiten langen Roman „Die Vorstadt“, von dem es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Oktober 1981 heißt, seit Gustav Freytag habe niemand mehr versucht, „Geschichte so aufwendig und mit solcher Akribie als Familiengeschichte und Sozialgeschichte darzustellen.“ Dieses Lob aus berufenem Munde gilt dem 1936 in München geborenen Schriftsteller August Kühn, aber es hilft dem Vater von fünf Kindern nicht aus seiner finanziellen Not. Am Ende seiner dreijährigen Plackerei hat Kühn – statt sich darüber Gedanken machen zu können, wie sein sauer verdientes Geld steuersparend in Bauherrenmodellen anzulegen wäre – Schulden in Höhe von 120 000 Mark, herrührend aus einem Kredit seines Verlages zur Finanzierung des Lebensunterhaltes während der dreijährigen Recherchier- und Schreibarbeit. Um den Absatz seines Buches zu fördern, entschließt sich August Kühn – wer „schreit“ schon gerne nach dem Staat? – zu einer literarischen Tour durch Deutschland, ist sich aber zum Zeitpunkt keineswegs sicher, ob das Volk der Dichter und Denker ihm auf Dauer die Existenz als freier Schriftsteller erlaubt. In Deutschland nach der geistig-moralischen Wende fehlt es zwar nicht an großen Worten („Leistung muss sich wieder lohnen“), wohl aber an einer kulturell-literarischen Infrastruktur. Weil das so ist, weil es z.B. kein eng geknüpftes Netz von volksnahen Kultur- und Literaturvereinen gibt, weil es zu wenige Sachkundige und literarisch versierte Sortimenter gibt, müssen Menschen um ihre Existenz bangen, die – hochmotiviert und extrem leistungsorientiert – Produkte herstellen, die der Gesellschaft, in und aus der sie entstanden sind, zur Ehre gereichen. Übrigens: Für seinen Auftritt in Idar-Oberstein erhielt August Kühn vom Kulturverein „Die Schnecke“ 400 Mark Honorar. Zugehört haben ihm – immerhin – 40 Menschen. Sie erlebten einen unverzagten August Kühn, der trotz seiner aktuellen Nöte langfristige Ziele nicht aus den Augen verloren hat: „Schnell geht goar nix, un mit Gwoalt nur Sach kaput.Werner Schäfer
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