|
Lokalanzeiger/Wochenspiegel, 5 Juli 1984 Dichterlesung begeisterte mit Mini-Geschichten DDR-Autor Günter Kunert beim Kulturverein „Die Schnecke“
Zu einer Lesung mit dem seit 1979 in der Bundesrepublik lebenden DDR-Autor Günter Kunert hatte der Kulturverein „Die Schnecke“ in das Idarer Gymnasium in der Heinzenwies eingeladen. Gekommen waren 104 Besucher, die von Kunerts Gedichten, Geschichten und „Kürzestgeschichten“ amüsiert und begeistert waren.Zum Beispiel von der Parabel „Der rote Streifen“, in der ein Arzt operativ die Köpfe seiner Patienten austauscht. Allein ein roter Streifen am Hals zeugt vom jeweiligen Kopfwechsel. Der emsige Operateur selbst behält indes seinen Kopf und begnügt sich mit einem aufgemalten Halsstreifen, denn: „Um anderen neue Köpfe zu verpassen, muss man den eigenen fest auf den Schultern behalten.“ Was treibt einen Schriftsteller an den Schreibtisch? Warum entsteht ein Gedicht, ein Roman? Weil der Autor etwas bewirken will?! Die meisten Besucher vermochten sich während der Diskussion einen Schriftsteller nicht vorzustellen, der nichts bestimmtes bewirken will. Doch Kunert wollte dem Publikum nicht entgegenkommen und offenbaren, weshalb er nun, vom Lebensunterhalt abgesehen, schreibt. Proust und Kafka, dienten dem bedrängten Autor als Beleg dafür, dass die meisten Schriftsteller beim Entstehen ihrer Werke keinesfalls an ihre Leser denken. Fürwahr eine desillusionierende Feststellung, die nicht nur provozierte, sondern auch Aggressionen freisetzte („Mensch ist der Kerl arrogant“). Schnecken-Vorsitzender Axel Redmer versuchte Kunert mit Verweisen auf gleichartige Äußerungen Bölls und Biermanns beizustehen, doch das verfestigte Missverständnis zwischen Autor und Publikum ließ sich in diesem Punkt nicht mehr klären. Am Ende der Diskussion blieben Zuhörer zurück, die nicht verstehen konnten, woher ein Autor über Jahrzehnte die Kraft zum Schreiben nimmt, wenn er seine Worte für folgenlos hält. In seinem Aufsatz „Für wen schreiben Sie?“ nennt Kunert immerhin als Adressaten seiner Texte diejenigen, die als an sich selber gerichtete Aufforderung erkennen: „Du musst dein Leben ändern.“ Im Laufe der Diskussion hatte Kunert zwischen seinen pessimistischen Sätzen („Die Welt ist schon so oft geändert worden, und was ist dabei herausgekommen?“) auch gefragt: „Warum fangen wir mit der Veränderung nicht bei uns an?“
|
|