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"Träne für Träne werde ich heimzahlen"
Lesung mit Saliha Scheinhardt
09.07.1988, 20.00 Uhr
Idar-Oberstein, Göttenbach-Aula

Nahe-Zeitung, 11.06.1988
Nicht zu schönen Bildern verpflichtet
Autorenlesung mit der Türkin Saliha Scheinhard : Zwei doppelt beeindruckende Stunden

Beifall kommt nur zögernd. Sichtlich ergriffen von dem. was sie eben vorgelesen hat, stürmt Saliha Scheinhard aus dem Raum. Ihre Zuhörer verharren regungslos auf ihren Stühlen, beeindruckt und betroffen.

"Ich habe als Schriftstellerin nicht die Verpflichtung, das Schöne zu zeigen. Im Gegenteil!" - sagt die 38jährige später in der Diskussion mit dem Publikum Und das Bild, das die gebürtige Türkin, die seit über 20 Jahren in der Bundesrepublik lebt, in ihrem literarischen Werk wie auch im Gespräch mit den Zuhörern von ihrem Heimatland zeichnet deckt sich wirklich nicht mit Ferienfotos von Moscheen, orientalischen Märkten und kilometerlangen Sandstränden.

Solch ein Blick hinter die Fassaden, ins ihr eigenes - türkisches Familienleben, ist die Erzählung Träne für Träne werde ich heimzahlen", aus der sie auf einer Veranstaltung des Kulturvereins Die Schnecke" am Donnerstagabend in der Göttenbach-Aula las.

Wie in einem überaus persönlich gehaltenen Brief an eine Schwester oder einen Bruder schildert Saliha Scheinhard darin aus ihrer Kindheit in Anatolien. Ihr Elternhaus ist geprägt von einem trinksüchtigen, schlagenden Vater, einer fanatisch religiösen Mutter, die in Selbstmitleid zerfließt, und der kleinen Schwester, die letztlich unheilbar krank ist.

Exotisch wirkt manches, was sie erzählt Wenn etwa versucht wird, das kranke Kind mit einer Mixtur aus Aberglaube, Religion und Volksmedizin zu kurieren. Oder der Armut im ländlichen Elternhaus der Prunk im Haus des zu Wohlstand gekommenen Onkels gegenübergestellt wird.

Doch vieles ist auch für Mitteleuropäer verständlich. Das Aufbegehren gegen den Vater zum Beispiel, der durch Zwänge in seinem Elternhaus zum Untier wurde. Oder die Anklage gegen katastrophale Mißstände im türkischen Hinterland, wo die Fahrt ins nächste Krankenhaus gleichbedeutend mit einer mehrtägigen Busreise ist.

Saliha Scheinhard ist eine politische Schriftstellerin. Angesichts sozialer Mißstände, Unmündigkeit und Unfreiheit in ihrer Heimat will sie nicht schweigen, sondern. »Salz in die Wunden reiben, damit sie brennen. aber auch Heilung einsetzt". Daß das Interesse an der Türkei - nicht zuletzt durch die Touristik-Werbung - zur Zeit groß ist nutzt sie aus.

Über eine Stunde diskutiert Saliha Scheinhard nach der Lesung noch mit dem Publikum. Sie erklärt - so wie man unter Freunden erklärt, warum scheinbare Gegensätze wie liebevoller Vater" und "Familien-Despot" in der türkischen Gesellschaft
sind. Warum die derzeitigen Machthaber in der Türkei den Touristen gern das makellose Ferienparadies vorgaukeln. Berichtet von einer tiefen gesellschaftlichen Depression, in der sich dieses Land, das seit 28 Jahren das Denken vergessen hat", befindet, Sie ist dabei hochpolitisch, ohne sich in politischen Aussagen zu erschöpfen. Ihr Publikum soll lediglich um die Hintergründe der Verhältnisse in der Türkei wissen, nicht nur die exotischen Bilder sehen.

So wurde die Lesung für die rund 70 Gäste zu einem doppelt packenden Erlebnis: Eine Dichterlesung, bei der nicht nur die Sprache, sondern auch das Gesagte tiefen Eindruck hinterließen.

Klaus-Peter Müller