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Nahe-Zeitung, 14.12.2002 Wie anders sind die Deutschen? Mehr als 300 Zuhörer lauschten dem Vortrag des französischen Politikprofessors Alfred Grosser
IDAR-OBERSTEIN. Wie anders sind die Deutschen? - Sehr differenzierte Antworten auf diese Frage erhielten mehr als 300 Zuhörer, als sie im Rahmen einer Veranstaltung des Kulturvereins "Die Schnecke" am Donnerstag Nachmittag den kritischen, pointierten und auch humorvollen Ausführungen von Alfred Grosser lauschten. Der international renommierte französische Politologe wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren, emigrierte 1933 nach Frankreich und ist seit 1937 französischer Staatsbürger. Auf Einladung der "Schnecke" kam Alfred Grosser in die Aula des Gymnasiums auf der Heinzenwies, um über die Kernaussagen seines neuesten Buches "Wie anders sind die Deutschen?" zu referieren und sich der Diskussion mit Lehrern und Oberstufenschülern der beiden städtischen Gymnasien zu stellen. Axel Redmer, Vorsitzender der "Schnecke", begrüßte den zweisprachigen, emeritierten Professor aus Paris. Redmer charakterisierte Grosser als jemanden, der immer auf beide Seiten schauen würde. Alfred Grosser sei ein Hingucker, kein Weggucker. In seinem jüngsten Buch halte Grosser den Deutschen einen Spiegel vor und löse vermeintlich "typisch deutsche" Verhaltensweisen und Eigenschaften in Europa auf. In seinem Vortrag zog Alfred Grosser eine prägnante Bilanz der Berliner Republik und streifte dabei auch das deutsch- französische Verhältnis sowie Aspekte der europäischen und weltpolitischen Lage erfrischend "anders". Der deutsche Titel seines Buches gefalle ihm eigentlich gar nicht so gut, weil es seiner Meinung nach "die" Deutschen nicht gebe: "Ich möchte am liebsten in allen Büchern den Artikel `die' streichen", sagte Grosser und zeigte damit deutlich, was er von Verallgemeinerungen hält. Im Gegenteil: Jeder habe mehrere Identitäten. In dieser Hinsicht gäbe es auch in Frankreich und Deutschland die gleichen Probleme. "Als Professor habe ich in Frankreich und in Deutschland die gleiche Identität". Wichtig sei nur, dass er nicht nur über seinen Status als Professor wahrgenommen würde. Alfred Grosser warnte vor einer einseitigen Verengung der Identität, die schlimme Folgen haben könne, wie die Judenverfolgung im Dritten Reich gezeigt habe: "Mein Vater war Kinderarzt, Freimaurer, Familienvater... im Hitlerreich aber nur Jude." Das Deutschland nach 1945 war durch seine Teilung "anders" und durch den Unterschied, dass die Bundesrepublik auf der politischen Idee der Freiheit aufgebaut war, die DDR demgegenüber nicht. Daraus folgte auch, dass nach der Wiedervereinigung das westdeutsche System quasi dem ostdeutschen übergestülpt wurde. Dabei sei nicht alles ostdeutsche "schwarz" und damit schlecht, alles westdeutsche "weiß" und gut gewesen. Grosser appellierte, "Verständnis für das Leiden der anderen" zu entwickeln. Auf diesem Grundsatz baue der europäische Einigungsprozess auf, dies sei auch Teil der Vergangenheitsbewältigung. (es)
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